Bisher hatte ich immer gesagt, dass mein dreifacher Weg auf den Mont Ventoux das Härteste war, was ich jemals getan hatte. Jetzt lautet die Antwort definitiv anders. Ich hatte mich, weil das Schicksal es so wollte, weit aus meiner Komfortzone entfernt. Anne meldete uns für den Little Mamutmarsch Berlin über 55 Kilometer an. Unsere Kampfnamen: MamutMarc29 und SuperAnne40. Die Zahlen stehen dabei nicht etwa für Alter oder Geburtsjahr, sondern ziemlich genau für die Kilometerzahl, die wir beide in der Vorbereitung zu Fuß zurückgelegt hatten. Wobei bei mir eine fünf Kilometer Wanderung in Gummistiefeln dabei war, die bestimmt doppelt zählen sollte.
Vorgeschichte
Die Vorgeschichte ist schnell erzählt. Anne konnte zu dieser Zeit nicht Rad fahren. Ihr Ellenbogen war durch einen Fahrradunfall gebrochen. Zuhause rumsitzen war für sie keine Option, rausgehen schon. Durch irgendeinen Zufall wurde sie auf den Little Mamutmarsch aufmerksam. 55 Kilometer zu Fuß durch Berlin und Brandenburg klangen offenbar nach einer guten Idee.
Eine Woche vor dem Start fragte sie mich, ob ich mir das vorstellen könnte. Und ich – Doofi – sagte, zu ihrer Überraschung, einfach ja. Zeit zur Vorbereitung hatte ich praktisch keine. Zwei Wochen bevor Anne fragte, war ich mit meinem Chef einmal um den Müggelsee gewandert. Wie der Zufall es wollte, auch mit Anne. 28 Kilometer. Eigentlich ein Jahresziel von mir. Als einmaliges Ding geplant, nicht als Trainingslauf für irgendetwas Größeres.
Es war die längste Wanderung, die ich bis dahin gemacht hatte. Und sie hatte Spuren hinterlassen. Nach der Tour hatte ich Blasen an den Füßen und einen ordentlichen Muskelkater. Ich wusste also ziemlich genau, was mich erwarten würde – vor allem, weil mein Alltag sonst eher aus rund 2.000 Schritten besteht als aus langen Märschen. Kurz gesagt: Ich hatte eine frische Erinnerung daran, wie sich 28 Kilometer anfühlen. Und meldete mich trotzdem für 55 an.
Die ersten Meter
Ich fuhr mit dem Auto zum Start. Unterwegs sammelte ich Anne in Köpenick ein. Es war noch stockdunkel. Der Parkplatz, den ich mir ausgesucht hatte funktionierte nicht. Er war bereits voll. Ich fand einen anderen, etwa einen Kilometer vom Start entfernt. Wir machten uns zügig auf den Weg, um noch pünktlich anzukommen. Es waren Menschen über Menschen unterwegs. Aufbruchsstimmung, Nervosität, dieses leise Knistern kurz vor dem Start. Dann der übliche Countdown: 3 – 2 – 1 –Mamutmarsch.
Die ersten Meter am Wasser waren schön. Fast zu schön für die Uhrzeit. Das Morgenrot zeigte sich langsam. Für mich fand der Start allerdings auf der falschen Seeseite statt. Ich hätte gern den Sonnenaufgang über dem Müggelsee gesehen – und später am Abend den Sonnenuntergang ebenfalls. Stattdessen liefen wir entgegengesetzt. Aber wir schafften es rechtzeitig zum Spreetunnel. So konnten wir den Sonnenaufgang trotzdem über dem See sehen. Einige Trommler standen dort und machten Musik. Es war einer dieser Momente, in denen man kurz vergaß, wie lang der Weg noch sein würde.

Wir erreichten den erste Verpflegungspunkt bei Kilometer sieben. Aber er war nicht für uns. Er hatte noch geschlossen. War für die 30-Kilometer-Wanderer gedacht, die erst später starteten. Wir gingen also einfach weiter. Irgendwo unterwegs gerieten wir hinter ein streitendes Pärchen. Es ging um die Frage, wer links und wer rechts gehen sollte. Jeder wollte auf die Schokoladenseite. Dinge, über die man halt so streitet, so früh am Morgen, auf einem 55-Kilometer-Marsch.
Die ersten Blessuren
Dort, wo wir mit meinem Chef Pause gemacht hatten verliefen wir uns. Einfach weil wir den Leuten vor uns folgten. Ich erinnerte mich an das Restaurant, wo ich mir vegane Pommes (mein Chef ist Veganer) bestellt hatte und ungläubige Blicke erntete: „Was bitte sind vegane Pommes?“. Zum Glück fanden wir schnell wieder zurück auf die Strecke.
An der „Russenbrücke“ verließen wir den Müggelsee und liefen in Richtung Erkner. Kurz darauf folgte der erste Verpflegungspunkt. Es gab Gurken, Tomaten, Milchbrötchen mit und ohne Schokolade, Riegel – allerdings nur einen pro Person. Dazu Wasser und süßen Zitronenkrümeltee. Ich war ehrlich gesagt etwas enttäuscht, denn für die Summe an Startgebühr war das Angebot doch dürftig. Trotzdem ließ ich mir meine Brotdose füllen. Wir machten keine längere Pause, sondern gingen direkt weiter. Gegessen wurde unterwegs, im Laufen.

Danach kam ein Streckenabschnitt, den ich so noch nicht kannte. Ein kurzer Teil über Holzbohlen. Sehr schön, auch nur kurz. Danach ging es über die Felder in Richtung Neu Zittau. Den Abschnitt kannte ich teilweise vom Radfahren. Zu Fuß nervte er mich mehr als gedacht. Der Weg war schmal, die schnelleren Läufer kamen nur schwer vorbei, und das ständige Ausweichen kostete Kraft. Meine Füße meldeten sich zum ersten Mal. Die Fußsohlen fingen an zu brennen. Wahrscheinlich hatte ich mir bereits Blasen gelaufen. Ich schaute nicht nach. Ich dachte an Schrödingers Katze: Solange ich nicht nachschaue, sind auch keine da.
Auf dem Radweg Richtung Neu Zittau wurde mir langsam bewusst, wie viele Menschen hier eigentlich unterwegs sein mussten. Vor uns waren hunderte Menschen zu sehen, und hinter uns auch. Normalerweise ist der Radweg dort total leer. Immer wieder gab es kleine Streckenabweichungen, die anders waren als auf dem ausgehändigten Zettel. Wir kamen an der Fischräucherei von Neu Zittau vorbei. Dort hätte ich mir gerne etwas zu essen geholt, aber geschlossen. Schade.
Der zweite Verpflegungspunkt war dann in Gosen, auf einem Sportplatz. Dort herrschte viel Trubel, laute Musik. Es gab wieder das Übliche, zusätzlich aber belegte Brote. Das gefiel mir besser. Wir setzten uns kurz. Ich zog die Schuhe zum ersten Mal aus. Das tat gut. Schaute aber trotzdem nicht nach, ob ich Blasen hatte. Mir fiel aber auf, dass die Innensohle meines rechten Schuhs ein Loch hatte. Der ganze Schuh war voll mit feinem grauen Sand. Wahrscheinlich nicht die beste Schuhwahl.
Rekorde werden gebrochen
Bei Kilometer 29 hatte ich meine bisher längste Wanderung hinter mir. Ab hier war alles neu. Und ehrlich gesagt: Bis zu diesem Punkt fühlte es sich erstaunlich leicht an. Der Kopf meldete sich zu Wort und sagte so etwas wie: Halb so schlimm. Ab jetzt ist es ja eigentlich nur noch der Rückweg. Anne sah das anders. Sie hatte einen Angstgegner. Die Treppe hinauf zum Müggelturm. Ich schickte meinem Chef ein Foto. Beweisführung.

Wir liefen durch den Wald in Richtung Müggelheim. Dort hatten wir uns mit Stefan, Annes Mann, verabredet. Er war mit dem Fahrrad unterwegs und besorgte uns von Holly Kuchen. Wir trafen uns direkt in Müggelheim, an einer Bushaltestelle. Er hatte sehr viel Kuchen im Gepäck, der zu meiner Überraschung sehr akkurat geschnitten war. So rechteckige Stücke hatte ich von Holly noch nie. Dazu holten wir uns aus der Tankstelle gegenüber einen Kaffee. Perfekt.
Ich bemerkte, wie ich psychisch, ob der körperlichen Wehwehchen, in einen Flow-Zustand gelangte. Es fiel mir plötzlich leicht fremde Menschen anzusprechen und komische Sprüche zu „drücken“. Neben uns in der Bushaltestelle saß ein Aussteiger der Veranstaltung. Ich fragte: „Möchtest du ein Stück? Oder stirbst du gerade?“ –
„Nein danke.“ – „Hast recht. Kuchen wäre eine Verschwendung, wenn du jetzt …“. Wir unterhielten uns noch kurz und wünschten ihm alles Gute.

Wir gingen weiter. Am Langen See direkt am Ufer entlang. Die Strecke, die wir normalerweise gerne mit dem Rad fahren – Ufercross. Diesmal aber ohne Rad. Ich konnte fast nach Hause schauen. Die Laune war immer noch gut. Die Füße schmerzten zwar, aber es war egal. Irgendwie. Dann kamen die Treppen. Annes erklärter Angstgegner. Ich kommentierte das humorvoll, wie genau weiß ich gar nicht mehr. Anne konnte mit dem Witz jedenfalls nichts anfangen. Kurz darauf rief ich einer Frau vor uns zu, dass es nach dem Treppen rauf gleich wieder Treppen runtergehen würde. Das brachte mir ein weiteres „Du bist mir unsympathisch.“ ein.

Anschließend kamen wir am Teufelssee am Lehrpfad vorbei. An der Station Fuchsspuren, eine Weitsprunggrube. Ich sprang. Immerhin schaffte ich es noch so weit wie eine Maus. Vielleicht 50 Zentimeter.
Es folgte der dritte Verpflegungspunkt. Diesmal gab es Milchbrötchen mit Gewürzgurke. Wirkte gewollt und nicht gekonnt. Schmeckte aber erstaunlicherweise. Das Bananenbrötchen war schlimmer. Am Tisch neben uns saß ein Paar aus Düsseldorf. Ich fragte nach dem Männer-Frauen-Verhältnis beim Mamutmarsch. Die Antwort: „Der Mamutmarsch sei weiblich. Nicht männlich genug. Männlich wäre der Marsch nur mit Gepäck.“ Irgendwie lustig. Und noch lustiger war, dass keiner der beiden die übrig gebliebene Banane tragen wollte. Ich konterte kurz „Nur mit Gepäck ist männlich.“ Und so nahm der Mann die Banane in seinen Rucksack.
Bei Kilometer 42 wurde mir klar, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Marathonstrecke zu Fuß bewältigt hatte. In unter zehn Stunden. Ein weiterer persönlicher Rekord. Gleichzeitig begann, obwohl ich immer noch im Flow war, mich alles zu nerven, was geradeaus ging. Lange Geraden. Endlose Wege. Die Menschen um uns herum sahen mittlerweile auch nicht mehr besonders frisch aus. Immer öfter sprach ich fremde Leute an. Oder mich mit kurzen, halb lustigen Kommentaren in ihre Gespräche einzumischen.
Die Waldautobahn
Ich freute mich auf ein Eis bei Kilometer 45. McDonald’s, ein klarer Fixpunkt im Kopf. Als wir dort ankamen, machten wir aber doch keinen Halt. Ich hatte Angst, nach einer Pause nicht mehr weiterzukommen. Ich wollte es nur noch möglichst schnell hinter mich bringen. Anne zog mit. Unterwegs trafen wir überraschenderweise an einer Ampelkreuzung auf einen Arbeitskollegen. Ich hatte überhaupt nicht auf dem Schirm, dass er öfter im Mamutmarsch-Format unterwegs war. Er fragte mich: „Marc, dein Ding ist doch Radfahren.“ Warum ich dann hier sei, wollte er wissen. Meine kurze trockene Antwort: „Ich bin Masochist.“ Kurzes Lachen.
Mittlerweile tat alles weh. Nicht punktuell, sondern flächig. Selbst die Oberschenkel fühlten sich leer an. Als wäre dort einfach nichts mehr drin. Wir trafen Annelie, eine Freundin von Anne. Sie war mit ihren Jungs auf einer Radtour. Also machten wir doch noch eine kurze Pause. Ich setzte mich kurz hin. Aber so, dass ich die Beine weiter bewegen konnte. Stillstehen war keine Option mehr.
Dann kam sie. Die Waldautobahn. Fünf Kilometer. Geradeaus. Ohne Abwechslung. Der schlimmste Abschnitt der ganzen Wanderung. Zum Glück war es dunkel. So sah man die Entfernung nicht. Trotzdem funkelten die Lichter der Leute vor uns wie ein Sternenhimmel. Ganz weit weg. Und erschwerend kam noch dazu, dass man das Tamtam vom Ziel bereits hören konnte. Luftlinie war es nicht mehr weit weg, aber wir mussten noch einen riesigen Bogen laufen.
Ich schaute ständig auf die Uhr. Es machte nichts besser. Irgendwann lagen nur noch etwa 200 Meter zwischen zwei Blicken aufs Display. Kraftloses Dahintrotten. Ich wollte mir einfach nur noch meine Medaille abholen. Das Bier und die Cola, die am Wegesrand verteilt wurden, interessierten mich nicht mehr. Nur noch ankommen. Aber das Gute war, es war keine Frage mehr, ob wir es schaffen oder nicht. Dass wir das Ziel erreichen würden war klar. Die Frage war nur, wie sehr es weh tun würde. Ich überlegte die ganze Zeit, wie wir nach dem Ziel zum Auto kommen würden. Ich war an einem Punkt, wo ich mir für den Kilometer ein Taxi gerufen hätte.
Irgendwann war die Waldautobahn geschafft. Aber es waren immer noch drei Kilometer. Und die zogen sich auch. Ich musste ab und zu stehen bleiben, um meine Oberschenkel kurz zu entlasten. Zehn, fünfzehn Sekunden. Mehr nicht. Auf der Straße kamen uns glückliche Finisher entgegen. Das wollte ich jetzt auch. Nur noch ein paar Meter und dann endlich das Ziel.

Unfassbar, dass wir das geschafft hatten. Ohne große Vorbereitung. Einfach nur mit sehr viel mentaler Stärke. Gerade die letzten Kilometer waren eine echte Grenzerfahrung.
Epilog
Und dann kam noch ein weiterer Kilometer. Bis zum Auto. In Zeitlupe. Kein Taxi. Obwohl ich so lange darüber nachgedacht hatte. Als wir das Auto erreichten, fiel ich direkt in den Kofferraum. Endlich sitzen. Rucksack runter. Ich rief meine Frau an, berichtete von unserem Erfolg und brachte danach Anne nach Hause. Wir wollten noch zusammen Abendbrot essen. Anne hatte etwas bei ihrem Lieblingsrestaurant bestellt. Wir aber saßen im Auto vor ihrer Haustür fest. Keiner von uns wollte aussteigen. Bloß keine Schritte mehr. Irgendwann schafften wir es doch. Gäbe es davon heute ein Video, so würde es zwei alte Menschen zeigen, die über die Straße gehen.
Ich lud meine Tour bei Strava hoch. Gab dem Ganzen einen netten Titel, fügte ein paar Bilder hinzu und schickte den Link an meine Eltern. „Oh, eine schöne Runde an den Seen“, schrieb meine Mutter. – „Mutti, schau noch mal genauer. Nicht mit dem Rad. Zu Fuß.“ – „Oh echt? Unglaublich. Verrückt.“
Während des Essens trudelten die ersten Kommentare ein. Normalerweise sind sie mir nicht so wichtig, aber bei einer für mich so ungewöhnlichen Aktivität war ich neugierig. Gerhard schrieb gleich zwei Kommentare. Er schwelgte in Erinnerungen und dachte an eine Zeit, in der er auch noch viel zu Fuß unterwegs war. Danke, dass ich daran teilhaben durfte.

Ein anderer Kommentar beschäftigte mich länger. Dirk schrieb nur drei Worte. Drei starke Worte: „Was für’n Freund!“ Diese drei Worte warfen ein völlig anderes Licht auf den Tag. Denn bei meinen Überlegungen, die zur Zusage zum Mamutmarsch geführt hatten, spielte Anne eigentlich keine Rolle. Die Entscheidung war sehr ichbezogen. Es erschien mir lohnenswerter, das Jahr mit so einer Wanderung abzuschließen, als einfach nur noch möglichst viele Kilometer auf dem Rad zu sammeln. Genau dafür muss ich Anne dankbar sein. Durch sie habe ich gelernt, dass es im Leben Ziele gibt, die sich lohnen – und andere, die einfach nur doof sind. Dirk hatte aber auch recht. Mit diesem Marsch habe ich unserer Freundschaft einen großen Gefallen getan. Hinterher war alles irgendwie anders. Am deutlichsten merkte man es daran, dass wir uns noch fast eine halbe Woche lang immer wieder „Danke“ sagten.
Nun sitze ich hier und schreibe diesen Text. An beiden Füßen habe ich jeweils handtellergroße Blasen. Am rechten Fuß ist die Ferse wund, am linken der Spann rot und gereizt. Aber ich habe es geschafft. Inklusive der Wege zum Auto fast 60 Kilometer. Gestört. Aber geil.